Zwei Seiten der Betrachtung – Meditative Fotografie
Ich suche Ruhe vom Touristenrummel und betrete den alten Friedhof, mitten in der Stadt.
Entlang der Gräber lese ich Inschriften, halte Ausschau nach bekannten Persönlichkeiten, von denen ich im Vorfeld las. Nichts dringt zu mir durch. Es bleiben leere Zeilen, unbedeutende Kreuze.
Ich setze mich auf eine Bank. Mein Blick schweift umher. Bleibt bei der Linde, die mit ihren hängenden Ästen die Toten schützt und mir Schatten spendet. Gegenüber, hinter der begrünten Friedhofsmauer, recken die Berchtesgadener Häuser ihre Obergeschosse über die Mauer, als wollten sie einen Moment der Stille erhaschen.
Ich sitze hier und bin doch weit weg.
Plötzlich höre ich hämmernde Schritte. Ein Mann in Arbeitskleidung rennt durch die Grabreihen. Unter seinen derben Schuhen fliegt der Schotter gequält zur Seite. Verwundert folgt ihm mein Blick. Er verschwindet um die Ecke und kommt nach kurzer Zeit wieder. Eine Schaufel klemmt unter seinem Arm. Eilig verlässt er den Friedhof, Stille kehrt zurück. Ich atme aus. Diese Begegnung ließ hier scheinbar alles einen Moment in Starre innehalten. Der rennende Arbeiter, ein Paradox, an diesem Ruheort.
Diese Kuriosität holt mich ins Jetzt. Ich sitze inmitten der Grabmäler. Wie eingereiht, in Verbindung getreten. Greife nach der neben mir liegenden Kamera, nehme sie hoch und schaue durch den Sucher. Mit dem Zoom hole ich Details nahe heran, entdecke Verborgenes und schiebe es wieder von mir. Das Spiel mit den Objekten offenbart Detailschönheiten.
Die Glocke der Stadtkirche dringt in meine Beobachtungen. Dumpf und volltönend meldet sie die Uhrzeit. Nur einen Augenblick später folgt eine zartklingende Zeitansage. Die sanfte Glocke der Franziskaner Kirche am Rande des Friedhofs rührt mich an. Zwei unterschiedliche Töne, Gegensätze in unmittelbarer Nähe. Nur kurz zeitlich versetzt. Die Zarte folgt der Groben, leise und doch eindringlich. Ihre kurze Verspätung, wenn es wirklich eine war, prägt sich ein. Vielleicht war die Grobe auch einfach nur vorlaut
Meine Aufmerksamkeit gilt wieder den Objekten vor mir. Details stechen aus der Vielfalt heraus. Die Spitze eines Epitaphs, das Kreuz mit Christus und daneben ein einfaches Steinkreuz. Verschiedenheiten untereinander
Unweit davon, ein Stein, mit pyramidenförmigem Abschluss. Auf seiner Spitze balanciert eine goldene Kugel mit einem ehemals goldenen, jetzt marmoriertem Kreuz. Es darf seine alternde Veränderung zeigen. Dieses sein dürfen, erinnert mich an die menschliche Wandlung im Zuge des Alters. Hinter Masken aus Schminke und künstlicher Farbe verborgen schmachtet oft authentische Schönheit.
Den Blickwinkel etwas verändert, zeigt mir die Kamera ein verwittertes Holzgrabkreuz. Ein Schindeldach mit dicken Moosflechten bewachsen. Der samtene Bezug schien sich ungehindert auszubreiten. Wurde es vergessen?
Plötzlich wird mir klar, ich fotografiere die Rückseiten der Grabmale. Der Gegensatz, der mich so gefangen nimmt. Ohne Worte. Anonym.
Die Kehrseite verändert meinen Blickwinkel. Zeigt ein schlichtes Kreuz und nur eine Schraube, die den Körper auf der Vorderseite fixiert. Welch ein Kontrast zu den Nägeln, die den gequälten Christus auf der anderen Seite anheften. Nur eine Schraube.
Noch näher betrachtet, hängt ein silberner Faden am rechten Querbalken und verknüpft das Kreuz mit dem Nachbarn. Eine Spinne schafft Gemeinsamkeit.
Nur ein Stück weiter rankt eine lilafarbene Clematis an einem Grabstein empor, breitet ihre Äste aus. Umfasst und setzt sich in Szene.
Stolz reckt die Pflanze ihre Blüten vor dem weißen Stein in die Höhe. Sanft und zerbrechlich zart, irgendwie unschuldig. Ich hole mir das Geflecht näher heran und blicke hinter die Fassade. Verstohlen streckt die Unschuldige ihre Arme aus. Klettert um die gewölbte Rundung, scheinbar eine Umarmung und doch ist es gewaltvoller. Festgezurrt, umklammert, eine Inbesitznahme. Die Luft abgeschnürt.
Hinter der Kulisse präsentiert sie ihr wahres Gesicht. Unverfälscht. Getarnt durch zarte Schönheit, vereinnahmt sie im Hintergrund und packt zu. Der Pflanzenarm verknotet sich auf der Rückseite, als würde er die Hände falten. Oder ist es ganz anders? Ein zärtliches Entlanggleiten, Umarmen und verbunden durch die verdrehten Enden, eine vertrauensvolle Hingabe.
Sie stehen hier in ihrer Verschiedenheit, die Grabmale. Gepflegt, vermodert, oder gar vergessen. Jedes einzigartig, individuell in seinem Sein.
Ich packe den Fotoapparat ein und verlasse den Friedhof, bin angefüllt von Eindrücken. Der Speicherchip der Kamera trägt viele Geheimnisse nach Hause.
Am Computer hochgeladen, erscheinen die Aufnahmen übergroß und erinnern mich an mein Erleben damals. Jetzt kommt zu den Bildern meine Fantasie ins Spiel. Der Spinnwebenfaden vom Querbalken des Kreuzes zum Nachbarn, wird zum Seil. Ein farbenfroh gekleideter Seiltänzer betritt die Szene, setzt einen Fuß vor den anderen, balanciert sich mit einer Stange aus und grinst mich schelmisch an. »Du würdest dich das nie trauen, mit deiner Höhenangst!«
Oder die Clematis, die den Stein vereinnahmt, beziehungsweise ist es ehrfurchtsvolles Entlanggleiten, zärtliches Streicheln und vertrauensvolles Anschmiegen. Die beiden Seiten einer Sichtweise.
Das ist für mich meditative Fotografie. Zuerst das Einlassen auf den jeweiligen Moment beim Aufnehmen. Das Eintauchen in den Augenblick. Im Nachgang das Auswerten der Bilder am Computer. Die Fotos inspirieren meine Fantasie, Geschichten entstehen. Geheimnisse weiten sich aus und liefern spannende Betrachtungen oder regen zum Nachdenken und Hinterfragen an.
Meditative Fotografie lässt mich anders sehen, auf die Natur und mich selbst. Ich staune über Gedankengänge und erkenne die Möglichkeit der Korrektur.
Wohin der Gedanke oder Weg führt, entscheidet der Betrachter.